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Eure
Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind
Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
Sie kommen
durch euch, aber nicht von euch, und obwohl
sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft
ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie
haben ihre eigenen Gedanken.
Ihr dürft
ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen, denn ihre
Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht
einmal in euren Träumen.
Ihr dürft
euch bemühen, wie sie zu sein, aber
versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
Denn das
Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im gestern.
(Khalil
Gibran. „Der Prophet“)
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Von der Liebe
Da sagte Almitra: Sprich uns von der Liebe. Und er hob den Kopf und sah auf die Menschen, und es kam
eine Stille über sie und mit lauter Stimme sagte er:
Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch
schwer und steil. Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich
verwunden kann. Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie, auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettern kann wie der Nordwind den Garten verwüstet. Denn so, wie die Liebe dich krönt, kreuzigt sie dich. So wie sie dich wachsen lässt, beschneidet sie dich. So wie sie emporsteigt zu deinen Höhen Und die zartesten Zweige liebkost, die in der Sonne zittern, steigt sie hinab zu deinen Wurzeln und erschüttert sie in ihrer Erdgebundenheit Wie Korngaben sammelt sie dich um sich. Sie drischt dich, um dich nackt zu machen. Sie siebt dich, um dich von deiner Spreu zu befreien. Sie mahlt dich, bis du weiß bist. Sie knetet dich, bis du geschmeidig bist; Und dann weiht sie dich ihrem heiligem Feuer, damit du heiliges Brot wirst für Gottes heiliges Mahl. All dies wird die Liebe mit dir machen, damit du die Geheimnisse deines Herzens kennen lernst und in diesem Wissen ein Teil vom Herzen des Lebens wirst. Aber wenn du in deiner Angst nur die Ruhe und die Lust der
Liebe suchst, dann ist es besser für dich, deine Nacktheit zu bedecken und vom Dreschboden der Liebe zu gehen. In die Welt ohne Jahreszeiten, wo du lachen wirst, aber nicht dein ganzes Lachen, und weinen, aber nicht all deine Tränen. Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von
sich selbst. Liebe besitzt nicht, noch lässt sie sich besitzen; Denn die Liebe genügt der Liebe. Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält, lenkt deinen
Lauf. Liebe hat keinen anderen Wunsch, als sich zu erfüllen. Aber wenn du liebst und Wünsche haben musst, sollst du dir
dies wünschen: Zu schmelzen und wie ein plätschernder Bach zu sein, der seine Melodie der Nacht singt. Den Schmerz allzu vieler Zärtlichkeiten zu kennen. Vom eigenen Verstehen der Liebe verwundet zu sein; Und willig und freudig zu bluten. Bei der Morgenröte Mit beflügeltem Herzen zu erwachen Und für einen weiteren Tag des Liebens dankzusagen; Zur Mittagszeit zu ruhen Und über die Verzückung der Liebe nachzusinnen; Am Abend mit Dankbarkeit heimzukehren; Und dann einzuschlafen Mit einem Gebet für den Geliebten im Herzen Und einem Lobgesang auf den Lippen.
(Khalil
Gibran)
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